Wie gehen hochsensible Männer mit ihrer Sensibilität um? (Interview)

25. Juli 2021

Der Anteil hochsensibler Männer beträgt Schätzungen zu Folge 50%. Also die Hälfte aller hochsensiblen Menschen ist männlich. Das ist mehr, als ich persönlich vermutet hatte, bevor ich danach recherchiert habe. In meinen Coachings beträgt der Männer-Anteil nur etwa 1/3 (und darüber freue ich mich bereits sehr). Hochsensible Männer, die ihre Sensibilität annehmen, nach außen tragen und einbringen, werden dringend gebraucht.

Warum sich hochsensible Männer weniger nach außen hin zeigen liegt vermutlich darin, dass diese entweder nichts über ihre Hochsensibilität wissen oder dass sie ihre sensible Seite unterdrücken, aus Angst vor Verurteilung.

Wie kommen hochsensible Männer in Kontakt mit ihrer Hochsensibilität? Wie gehen sie damit um? Und was sind ihre Herausforderungen? Ich habe einen hochsensiblen Mann dazu befragt.

Hallo lieber Gerd, vielen Dank, dass du dich für das Interview bereit erklärt hast. Erzähl doch mal kurz etwas über dich. Wie alt bist du, wie lebst du und was machst du beruflich?

Ich bin Lehrer an einer Brennpunktschule und habe vorher in der Sporttherapie und als Sportcoach gearbeitet. Ich bin in meinen Vierzigern und lebe in einer Kleinstadt in Norddeutschland. Ansonsten interessiere ich mich für einen gesunden Lifestyle und engagiere ich mich für Tier- und Umweltschutz.

Wann bist du auf das Thema Hochsensibilität gestoßen und warum hast du es mit dir in Verbindung gebracht?

Ich habe schon recht früh gemerkt, dass ich Dinge anders wahrnehme und verarbeite als andere Menschen. Mit Anfang Zwanzig hatte ich einfach andere Interessen als meine Freunde und Bekannten. Das Bedürfnis nach Rückzug und Alleinsein und eine starke Naturverbundenheit zogen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Den Begriff HSP und die damit verbundenen Eigenschaften habe ich erst viel später kennengelernt.

Wie bist du mit der Erkenntnis umgegangen? Fiel es dir leicht, dir selbst deine Hochsensibilität einzugestehen?

Auf der einen Seite habe ich mich darin wirklich wiedererkannt, auf der anderen Seite mussten erst viele weitere Dinge geschehen, damit ich mich intensiver mit dem Thema beschäftige. Es fiel mir dann relativ leicht, meine eigene Hochsensibilität zu erkennen und anzunehmen. Ich empfand es als eine Art von Erleichterung, zu entdecken, dass es auch viele andere Menschen mit ähnlichen Veranlagungen gibt. Mit anderen darüber zu reden fiel mir jedoch nicht leicht.

Wie offen zeigst du dich nach außen mit deiner Hochsensibilität?

Eigentlich zeige ich mich nur im engeren Familien- und Freundeskreis offen für das Thema. Im meinem beruflichen Umfeld hilft mir meine eigene Hochsensibilität zwar in bestimmten Situationen, kann andererseits aber auch schnell zu eigener emotionaler Überforderung oder zu einer Be- und Verurteilungen im Kollegenkreis führen. Wobei ich gelernt habe, immer besser damit umzugehen.

Ich kann mir vorstellen, dass ein hochsensibler Mann hier vor zusätzlichen Herausforderungen steht, weil er nicht dem gesellschaftlich geprägten Rollenbild eines Mannes entspricht. Ein „typischer“ Mann ist „hart im Nehmen“, durchsetzungsstark, erfolgs- und machtgetrieben und zeigt keine Schwäche. Sensibilität und Weichheit sind weibliche Attribute, die einen Mann – laut dem gängigen Rollenbild – nur schwach und unmännlich machen. Wie siehst du das? Macht es dir dieses Rollenklischee schwerer, zu deiner sensiblen Seite und deinen Bedürfnissen zu stehen?

Ja, diese Rollenklischees machen es allen Männern schwerer, zu ihrer sensiblen Seite und den eigenen Bedürfnissen zu stehen. Wir kennen alle die gesellschaftlich geprägten Rollenbilder von Männer und Frauen. Das spiegelt sich leider auch noch heutzutage in den  sozialen Medien wieder. Das Thema der Hochsensibilität ist den meisten Menschen fremd. Das ist schade, doch sehe ich auf der anderen Seite auch immer mehr Männer, die ihre sensible Seite annehmen und sich nicht von gesellschaftlichen Normen bestimmen lassen wollen.

Unsere Welt braucht einen Ausgleich für die fehlende Empfindsamkeit gegenüber anderen Menschen, Tieren und unserer Umwelt.

Worin siehst du die Stärken deiner Hochsensibilität und wie setzt du sie ein?

Ich habe eine hohe Empathiefähigkeit gegenüber allen Lebewesen, eine enge Verbundenheit zur Natur und Umwelt. Meistens begegne ich meinen Mitmenschen unvoreingenommen annehmend und mit Wertschätzung. Mein gedanklicher Tiefgang sowie die eigene Reflexion helfen mir im privaten und beruflichen Umfeld, Menschen besser zu verstehen und Dinge einzuordnen.

Was sind deine größten Herausforderungen im Alltag und wie gehst du mit ihnen um?

Da meine Erlebniswirklichkeit oft anders ist als die meiner Mitmenschen, fühle ich mich in manchen sozialen Kontexten nicht richtig zugehörig, sondern eher als Außenseiter. Das kann wiederum zu einigen Missverständnissen in der verbalen und nonverbalen Kommunikation führen. Dann fühlt man sich nicht verstanden oder gar belächelt, in Frage gestellt und abgewertet, was zu innerem und äußeren Rückzug und auch zu Frustration führen kann.

Es gelingt mir meistens, die Dinge gelassen zu betrachten und nicht persönlich zu nehmen durch ein wertfreies Wahrnehmen in Akzeptanz, Geduld und Freundlichkeit.

Wie gelingt es dir im Berufsalltag auf deine Hochsensibilität zu achten, dich ausreichend abzugrenzen und gut für dich zu sorgen?

Es ist nicht immer einfach, besonders in sehr stressreichen Zeiten. Und besonders das letzte Jahr war eine echte Belastung. Gute Vorbereitungen auf anstehende Herausforderungen sowie klare Strukturen im persönlichen Alltag helfen mir dabei. Auch eine ausreichende Abgrenzung in Form von Minipausen, dem Aufsuchen von Rückzugsorten in der Natur sowie generell durch einen gesunden Lifestyle in Bezug auf Bewegung, Ernährung und Entspannung unterstützen mich dabei. Reizüberflutung und Überforderungen und die damit oft verbundene Selbstsabotage versuche ich zu minimieren.

Was sind deine größten Strategien und Kraftquellen, um in deiner Balance zu bleiben?

Ich akzeptiere meine Hochsensibilität und erkenne meine Energieräuber, aber auch die Dinge, die mir gut tun.

Ich weiß, wofür ich stehe, was für mich wichtig ist und was ich nicht möchte. Diese Klarheit und Selbstsicherheit helfen mir in Balance, im inneren Frieden, zu bleiben.

Kraftquellen sind vor allem regelmäßige Aufenthalte in der Natur, Meditation und die damit einhergehende Verbundenheit zu einer höheren, universellen Kraftquelle, wie auch immer man diese benennen mag. Ruhe, Stille und sogar Langeweile sind nicht negativ, wie es uns oft suggeriert wird. Sie sind sogar eine Voraussetzung fürs Glücklichsein. Und wie der Name schon sagt, innerer Frieden kommt von innen, wir werden ihn nicht im Außen finden.

Darüber hinaus war und bin ich immer sportlich aktiv. Einerseits beruflich aber auch privat in Form von u.a. Tanzen, Walking, Yoga, Qigong und gelegentlichem Krafttraining. Alles in Maßen und mit Freude an der Bewegung. 😉

Was gibt dir den Mut und die Kraft, weiter diesen Weg zu gehen und im Einklang mit dir zu leben? Welchen Gewinn ziehst du daraus?

Ich kann einfach nicht anders, als diesen Weg zu gehen. Klar, es gibt immer wieder neue Herausforderungen und Hindernisse. Und ich bin auch nicht immer im Einklang mit mir selbst. Das ist aber in Ordnung, ich akzeptiere es. Vielleicht ändere ich auch nochmal mein Berufsfeld und mache etwas ganz anderes. Ich denke es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, sich an eine zutiefst gestörte Gesellschaft anpassen zu können und es fällt mir oft nicht leicht im täglichen Hamsterrad des Berufsalltags gefangen zu sein.

Und doch fühle ich: Es geschieht immer das, was zu meinem Leben gehört, positiv wie negativ.

Deine Frage nach Gewinn, erinnert mich an einen Gedanken von Nelson Mandela, der mal gesagt haben soll: „Ich verliere nie. Entweder ich gewinne oder ich lerne.“

Woran glaubst du?

Ich glaube, dass es mehr gibt als wir mit unseren begrenzten Sinnen wahrnehmen können. Allein unser Körper ist ein Wunderwerk, ganz abgesehen von der uns umgebenen Natur und Umwelt. Alles ist miteinander verbunden, alles ist stetige Veränderung und Ungewissheit.

Ich hoffe, wir wachen eines Tages nicht erst auf, wenn es für unsere Erde zu spät ist. Das Wenige, das jede/r von uns tun kann, ist viel.

Ich bin sicher, dass es ein kollektives Bewusstsein, eine universelle Kraft gibt. Manche nennen es auch Gott, Buddha, Allah…

So habe ich nicht immer gedacht. Früher war ich eher davon überzeugt, dass wir über alles Kontrolle haben und jedes Ziel erreichen können. Durch viele eigene Erfahrungen und familiäre Schicksalsschläge habe ich meine Meinung geändert.

Wir sind alle Instrumente der einen universellen Quelle, Bewusstsein, Energie und unser Wissen ist eher ein Tropfen, unser Unwissen ein Ozean.

Gibt es etwas, dass du anderen Hochsensiblen (Männern) gerne mitgeben möchtest?

Bitte informiere dich über das Thema und trage dein sensibles Herz mit Freude und Dankbarkeit.

Bettina bietet in ihrem Buch und auf ihrer Webseite so viele wertvolle Informationen dazu an. Nutze diese und verbinde dich mit ihr und allen Menschen, die in ähnlicher Weise beschenkt wurden. Denn alles ist ein Geschenk des Lebens, auch wenn wir es oft nicht verstehen können.

Lieber Gerd, herzlichen Dank für das Interview. Es hat mich sehr berührt.

Ich danke dir, liebe Bettina und wünsche dir von ganzem Herzen alles Gute und viel Erfolg.

Mögest du dich verbunden und bestärkt fühlen

Wer auch immer dieses Interview liest: Du als hochsensibler Mann oder hochsensible Frau: Möge dieses Interview Verbundenheit erzeugen, dich ermutigen und darin bestärken, deinen eigenen, einzigartigen Weg in Harmonie mit deiner Hochsensibilität zu gehen.

Du bist nicht alleine. Auch wenn du die Gleichgesinnten im Moment nicht um dich herum wahrnehmen kannst, gibt es eine Vielzahl an hochsensiblen Männern wie Frauen, die verteilt auf der Erde leben und vor den gleichen Herausforderungen stehen und für das gleiche kämpfen, wie du.

Wie gehst du als hochsensibler Mann mit deiner Hochsensibilität um? Was sind deine größten Herausforderungen?

Hast du noch eine weitere Frage an Gerd? Dann darfst du sie in den Kommentaren gerne stellen.

2 Gedanken zu „Wie gehen hochsensible Männer mit ihrer Sensibilität um? (Interview)“

  1. Lieber Gerd. Herzlichen Dank für deine Offenheit. Ich finde es wunderbar, dass auch Männer so eine feine Seite haben. Es gibt viel zu viel solch „rustikale“ Typen. Ich mag das Tiefgründige und finde es so schön wie du schreibt, dass du in der Natur zur Ruhe kommst und Kraft tanken kannst, und ja, die Gesellschaft finde ich auch definitiv als gestört.
    Dass auch du, über Schicksalsschläge, deinen Weg zu einer höheren Quelle gefunden hast, finde ich toll. Ich kann das auch aus meinen eigenen Erfahrungen bestätigen, auch mir ging es so.
    Und ich bin froh zu dieser kraftvollen Quelle gefunden zu haben.
    Es gibt 2 Wege im Leben um dazuzulernen, entweder über den schmerzhaften Weg über Leid oder Krankheit, oder über den königlichen Weg der Erkenntnis.
    Lieber Gerd, ich wünsche dir für die weitere Zukunft alles Gute, Achtsamkeit und Selbstliebe!!

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  2. Liebe Maria,
    vielen Dank für deine ermutigenden Worte. Besondere Menschen sehen mehr in einem, als es andere tun. Denn sie erkennen die Trauer in deinem Lächeln, die Liebe hinter deinem Zorn und sie verstehen nicht nur deine Worte, sondern auch dein Schweigen. Ich glaube, welchen Weg wir im Leben gehen, den schmerzhaften oder den königlichen Weg, ist in unserem „Lebensbuch“ bereits festgeschrieben. Der Mensch denkt, die Quelle (Gott…) lenkt. Oder frei nach R.M. Rilke „Du mußt das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest. Und laß dir jeden Tag geschehen so wie ein Kind im Weitergehen.“
    Ich wünsche dir auch von ganzem Herzen alles Gute für die weitere Zukunft! 🙏

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