Brief an den Herbst

27. Oktober 2015

Lieber Herbst,

jedes Jahr können wir von dir lernen.

In deiner Jahreszeit lässt jeder Baum seine ganzen Blätter fallen. Alles, was ihn ausgezeichnet und zu dem Baum gemacht hat, der er ist, lässt er los.

Ein Baum weiß, dass die Zeit gekommen ist, loszulassen. Er weiß, dass jedes Blatt – so schön es war und so sehr es zu ihm gehört hat – sein Leben belasten würde. Mit keinem dieser Blätter, die zu welken beginnen, könnte er gesund weiteratmen und sich Kraft holen, um neu zu erblühen.

Ein Baum reduziert sich im Herbst auf seinen wesentlichen Kern. Seine Stärke definiert sich durch die Tiefe seiner Wurzeln und die Festigkeit seines Stammes. Durch die Verzweigung seiner Äste und die Höhe seiner Krone. Er hält nicht fest an einem Jahr gemeinsamem Weg. Er weiß, dass sein Wesen sich nicht durch seine Blätter definiert, sondern, dass Wachstum und Entfaltung die wahren Ziele des Lebens sind.

Er weiß um die Bedeutung des Loslassens. Er weiß, dass er dadurch niemals untergehen wird oder sich selbst verliert. Im Gegenteil. Er weiß, dass er auferstehen wird und größer und besser werden wird, als zuvor.

Wir sollten von dir lernen, lieber Herbst.

Wir sollten das Loslassen lernen. Nicht ganz so radikal wie es die Bäume tun und alles von uns werfen, was zu uns gehört, aber einige Aspekte in unserem Leben sollten wir verabschieden, um Platz für neue Möglichkeiten zu schaffen. Wir sollten Loslassen, um uns nicht in unserer Entwicklung zu hindern und in unserem Leben mit Ballast zu vergiften, der in unserer Seele welkt.

Lieber Herbst,

du rufst jedes Jahr eine positive Melancholie in mir wach. Es ist die Zeit des in sich Hineinhorchens und des Hinterfragens seines Lebens. Du erinnerst mich an Abschied und daran, dass Loslassen zum Leben dazugehört.

Ich möchte von dir lernen, von den Bäumen, die dich demütig empfangen und wissen, dass die Zeit gekommen ist, loszulassen. Ich möchte mein Leben immer wieder überdenken, mich fragen, welchen Ballast ich mit mir herumtrage und ob es sich mit weniger Gepäck nicht leichter leben lässt. Ich möchte mich fragen, ob ich mich nicht an meiner Entwicklung hindere, weil ich welkes Laub in meiner Seele trage.

Ich danke jedem Aspekt in meinem Leben, denn ich habe ihn gebraucht, um zu lernen und zu wachsen. Aber es kommt eine Zeit, in der man alleine besser weitergehen kann und in der man sich dankbar verabschieden sollte – um Freiraum zu schaffen, damit wir uns entfalten können und um sich neue Verbündete zu suchen, die uns auf unserer Reise ein Stück weit begleiten und die wir zum weiteren Wachstum brauchen.

Danke lieber Herbst, für diese Lektion.


Wie empfindest du den Herbst? Wirst du nachdenklich, kreativ oder traurig?
Oder beeinflusst dich die Jahreszeit überhaupt nicht?

 

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