Brief an das Wenn

20. März 2016

Liebes Wenn,

wenn ich in Rente bin, dann gehe ich auf Reisen.
Wenn ich genug Geld angespart habe, werde ich meine Träume verwirklichen.
Wenn ich Urlaub habe, werde ich mir Zeit für das nehmen, was mir wichtig ist.
Wenn die Kinder aus dem Haus sind, werde ich mehr Zeit für mich haben.
Auch mit anderen Namen tarnst du dich und schleichst dich in mein Leben:
Falls. Sofern. Sollte. Vorausgesetzt. Eines Tages. Irgendwann.

Liebes Wenn,

du lässt mich von besseren Zeiten träumen und Sehnsucht in mir aufsteigen.
Du lässt mich stark werden, weil du mir einen Grund gibst, wofür ich eigentlich lebe.
Du lässt mich glauben, dass sich alles irgendwann gelohnt hat:
All die Arbeit, der Stress, die Hektik. Die Müdigkeit, die Erschöpfung, die Kraftlosigkeit. Die verpassten Chancen. Das ungelebte Leben.
Du bist meine Hoffnung am Horizont – aufsteigend und in den schönsten Farben erstrahlend.

Liebes Wenn,

so verlockend du auch sein magst: ich habe mich in dir getäuscht.
Du bist Schein und nichts von Sein.

Du entführst mich an einen Zeitpunkt, dessen Eintritt nicht garantiert ist und an dem mich eine 50/50 Chance erwartet, ob ich meine Träume auch wirklich leben kann.

Du bist meine Entschuldigung für mein ungelebtes Leben und meine Unzufriedenheit, die diese Erkenntnis in mir weckt. Du bist meine trügerische Hoffnung, dass alles anders werden kann und gleichzeitig die Ahnung meiner Angst, dass ich dir nie begegnen und mein Leben nie leben werde.

Liebes Wenn,

du lebst von genau dieser trügerischen Hoffnung, von der Illusion in den Menschen, unendlich viel Zeit zu haben. Nur in dieser Illusion kannst du existieren. Sie ist dein Erfolgsrezept und das Irrlicht am Horizont, das die Sehnsuchttreibenden und Hoffnungssuchenden anlockt.

Aber du bist keine Garantie. Zeit ist endlich, Leben ist vergänglich und das Schicksal hat manchmal seine eigenen Pläne für uns.

Liebes Wenn,

bevor wir uns begegnen konnten, wurde mir mein Glaube an dich genommen und ich habe erfahren, dass die einzige Zeit, die mir garantiert ist, jetzt stattfindet:
die Gegenwart. Sie ist mein Leben und dein Tod.
Nur in ihr kann ich leben und mich verwirklichen.
Nur in ihr kannst du sterben, denn sobald du stattfindest, existierst du nicht mehr.
Daher möchte ich die Gegenwart, als deinen größten Feind, zu meinem Verbündeten machen.

Liebes Wenn und alle Namen, die dich umschreiben,

ich möchte mich von euch trennen.

Ich möchte euch ersetzen.
Nicht wenn, falls, sollte, sofern und vorausgesetzt, sondern trotzdem.
Nicht eines Tages und irgendwann, sondern jetzt.

Ich will nicht, dass durch euch mein Leben stirbt.
Ich will, dass ihr sterbt, damit mein Leben erwachen kann.

So einfach ist das.

2 Gedanken zu „Brief an das Wenn“

  1. Schön, dass es Dich im Jetzt gibt…und Du viele Menschen mit deinen inspirierenden und liebevollen Gedanken bereicherst …darunter auch mich!
    Danke!!!
    Alles Liebe
    Felix

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