Brief an das Ich

5. Juli 2016

Liebes Ich,

ich weiß nicht genau, wann es passiert ist, als du nicht mehr an die Vorstellung herangereicht hast, die ich von dir hatte. Schleichend und unbemerkt kam der Zeitpunkt, da habe ich mich gegen dich gewendet. Ich habe angefangen, dich als Feind zu betrachten und gedacht, ich wüsste besser, wie du zu sein hast. Ich habe geglaubt, ich könnte dich mit meinen besserwissenden Ratschlägen dazu bringen, so zu sein, wie ich dich haben will.

Du warst nicht gut genug für mich.

Deswegen wollte ich dich ändern.

Liebes Ich,

ich habe dich verachtet und verurteilt. Immer wieder. Ich habe dich beleidigt und klein gemacht, jede Gelegenheit genutzt, dich mit anderen zu vergleichen und dir vor Augen zu halten, dass du nicht reichst.

Jeder Widerhall meiner Stimme trug Schmerz in sich, der sich in dir niederlegte, bis du gebeugt von der Last der Schuld geschwächt durch das Leben geschlichen bist.

Eingeschüchtert und ängstlich blicktest du mir jedes Mal im Spiegel entgegen, mit der Gewissheit, dass du meinen Ansprüchen wieder nicht genügen wirst. Aber ich habe es nicht gesehen. Ich habe es nicht sehen wollen. Ich habe nicht sehen wollen, dass du nie so sein kannst, wie ich es von dir erwartet habe.

Ich habe deine Einzigartigkeit verleugnet, habe deinen besonderen Reiz übergangen und dir damit den Glanz in den Augen genommen. Sie sind stumpf geworden. Verdunkelt vom Schatten der Traurigkeit, weil ich dir nicht erlaubt habe, in deinem Licht zu erstrahlen.

Liebes Ich,

ich habe mich unbewusst versklavt an meinen inneren Kritiker. Ich habe mich abhängig gemacht von den Stimmen in meinem Kopf. Ich habe mich zum Sklaven gemacht von meinen eigenen Gedanken und wurde Opfer meiner eigenen Lieblosigkeit.

Und ich zahle die Rechnung dafür.

Ich gehe mit gesenktem Haupt und krummem Rücken durchs Leben. Gebeugt von der fehlenden Achtung und Wertschätzung mir selbst gegenüber. Geschwächt und unfähig, überzeugend für mich einzustehen, weil ich so viele Zweifel an mir habe. Ohne Freude und Liebe zu mir, weil mein Fokus allein auf das gerichtet ist, was ich nicht bin, anstatt auf das zu richten, was ich bin.

Liebes Ich,

ich war so dumm und nun bin ich erwacht. Ich habe erkannt, dass ich mich mit meinem begrenzten Verstand vom Lebendigsein abgehalten habe. Dass ich mich unterdrückt und gedemütigt habe aus falschem Stolz und falschem Ehrgeiz.

Ich habe das Wunder Leben, das ich bin und das mit jedem Menschen auf die Erde kommt, übersehen und mit Füßen getreten. Meine Stimme, mein Wesen, mein Aussehen – Ich habe ihm jeden Glanz genommen, weil ich verbrannte Asche über mir verteilt habe.

Das ist mir nun klar geworden.

Liebes Ich,

du gibst mir Hände zum Berühren und Füße zum Gehen. Ohren zum Hören, eine Stimme zum Sprechen und Augen, die sehen.

Ich lebe in dir.

Ohne dich, gäbe es mich nicht. Ohne dich, wäre ich nicht ich.
Ohne dich gäbe es all die Menschen nicht, die mich um meinetwillen mögen.

Liebes Ich,

ich möchte mich bei dir entschuldigen. Für all das Leid, das ich dir zugefügt habe. Ich möchte aufhören, das Haus, in dem ich wohne, mit Steinen zu bewerfen und mit negativen Worten und Gefühlen zu füllen.

Ich möchte gut zu dir sein – von heute an.

Ich möchte eine Freundschaft mit dir eingehen, die ein Leben lang dauern soll.

Ich möchte das Zuhause, in dem ich in diesem Leben wohnen darf, mit Liebe und Wärme, Selbstachtung und Wertschätzung füllen.

Und die Freude, die Liebe und das Lachen in mein Leben zurück holen.

Danke für dein Verständnis – und danke für dich und was durch dich erst möglich ist!

Ich freue mich auf die weitere Reise mit dir.

2 Gedanken zu „Brief an das Ich“

  1. Ich habe „Pippi“ in den Augen … genauso gehe ich mit mir um. Und wundere mich, weshalb mich die Depression immer wieder „packt“ und mich lähmt. Danke für diese Zeilen

    Antworten
    • Wow, vielen Dank! Ich freu sehr, dass dich die Zeilen so berühren und etwas in dir zum Umbruch bewegen.
      Alles Liebe und Gute für dich

Schreibe einen Kommentar